Cluster und Klerus
Oder: Der unaufhaltsame Abstieg des Krzysztof Penderecki
Geigen kreischen und quietschen in den höchsten Lagen, Celli quirlen
rasend und stereotyp Reihenfetzen, Bratschen knattern perkussive Kontrapunkte,
Bässe blubbern undefinierbare Tontrauben.
Die Rede ist von einer Komposition für 52 Streicher, die der Pole
Krzysztof Penderecki, 36, in den Jahren 1959-61 notierte und mit dem belanglosen
Titel „8 Minuten 30 Sekunden“ versah; erfreuerlicherweise (für
den seitdem zu Weltruhm hochgelobten Musikus) kam sein Verleger auf
eine Idee, die sich als absatzfördernd herausgestellt hat: Das Stück
wurde in „Den Opfern von Hiroshima“ umbenannt (das polnische „Leksykon
Kompozytorow XX wieku / Komponistenlexikon des 20. Jahrhunderts / nennt
korrekt beide Titel) und weckte im unbefangenen Normalhörer Sirenen-
und Atomtodassoziationen sowie die Überzeugung, es mit einem humanistisch
und pazifistisch engagierten Komponisten zu tun zu haben.
Als bald darauf Pendereckis inbrünstiges „Stabat Mater“, dann die
„Lukas Passion“ und das Oratorium „Dies Irae“, geschrieben zur Einweihung
eines neuen Ehrenmals auf dem Gelände des ehem. KZ Birkenau, herauskamen,
von einem Komponisten aus der sozialistischen Volksrepublik Polen, der
sich selbst als „Linkskatholik“ bezeichnete, da stand für die internationale
Gilde der Akklamateure des spätbürgerlichen Musikbetriebes fest,
daß die „Synthese von Sozialismus und Christentum“ gelungen und mit
den „Äußerungen im Geiste humaner und christlicher Überlieferung“
(Hans Heinz Stuckenschmidt) ein neuer Markenartikel die Scenerie der Musikbörse
betreten und steil den Kurs der Neutönerei nach oben getrieben hatte.
Die Makler der westdeutschen Rundfunkanstalten, der Verlage und die
Vertreter der Opernhäuser balgten sich um jede Note aus des Polen
eifriger Feder, bald schon überschritten die Aufträge das Maß
dessen, was ein Künstler von einigermaßen rationaler Selbstkontrolle
zu bewältigen imstande ist. Penderecki überschritt mit, und so
konnte Joachim Kaiser in der ZEIT Nr. 26 vom 27. Juni 1969 zu Recht die
Dürftigkeit der musikalischen Faktur in Pendereckis jüngster
Produktion feststellen: „Die Musik... klingt indessen oft deprimierend
simpel und monoton... der Komponist entwickelt nicht, führt allzuwenig
aus, läßt die Partitur nicht zu sich selber kommen.“
Nachdem also die kompositorischen Mängel des polnischen Kulturexportwunders
– schematische Wiederholung und Aneinanderreihung bestimmter Klangstrukturmuster;
Cluster, Glissandi, ineinander verwobene Figuren, Eruptionen in der Instrumenten-
und Chorbehandlung; E x positionen eines sich schnell abnutzenden Arsenals
von Modellen statt K o m- positionen mit diesen – offenbar und endlich
auch in den etablierten publizistischen Medien wenigstens in Ansätzen
artikuliert worden sind, dürfte es an der Zeit sein, mit dem faden
Fleisch des musikalischen Materials auch gleich die ideologische Soße
mit zu verbraten.
Merkwürdig genug ist schon, daß Pendereckis künstlerisch-politisches
Engagement fast stets im Rahmen oder doch in der Nähe kirchlich-liturgischer
Form sich einstellt bzw. sich religiöser Inhalte bedient, um sich
zu artikulieren. In der Lukaspassion wollte er, wie er sagte, „Das Leiden
Christi und das Leiden von Auschwitz“ ausdrücken; das Oratorium „Dies
Irae“ ist dem Andenken der KZ-Opfern gewidmet, es verwendet u.a. Texte
der zeitgenössischen Autoren Aragon, Broniewski und Rozewicz, die
aber nicht im Original, sonder übersetzt ins Lateinische vertont wurden;
offenbar kam es Penderecki – ähnlich wie Carl Orff im altgriechisch
gesungenen „Prometeus“ – nicht auf Textverständlichkeit und inhaltliche
Aussage an, sondern auf die Einstimmung in einen liturgischen Rahmen, worauf
auch hymnische Steigerungen der Musik und der Titel des Stücks hinweisen;
dieser stammt aus einer lateinischen Sequenz, die das jüngste Gericht,
den Tag des Zorns Gottes über die sündliche Menschheit zum Gegenstand
hat.
Zeigt sich in der oberflächlichen Parallelisierung des „Leidens
Christi“ mit dem „Leiden von Auschwitz“ schon eine adäquate Ungenauigkeit
– was ist „Leiden“, wer und welche gesellschaftlichen Kräfte haben
es verursacht? – so ist die Verknüpfung der im KZ Ermordeten mit den
armen Sünder eines klerikalideologisch verbrämten Christentums
eine prekäre politische Fehleinschätzung: Die Opfer konkretester
Willkür werden zu Figuren reaktionärster, Schicksals- und Gottes-ergebener
Frömmelei, die nicht zur Kenntnis nehmen will, daß ein Teil
der klerikalen Hierarchie ins Dritte Reich und leider auch in den Krieg
mitmarschierte, der im Interese der kapitalistischen Wirtschaftsbosse von
den Nazis angezettelt wurde, um Rohstoffquellen und Absatzmärkte zu
ergattern, ein Ziel, dem auch die Insassen von Auschwitz und anderen KZ´s
als billige und bis zum Tode ausbeutbare Arbeitskräfte zur Verfügung
stehen mußten, ein Ziel, für das auch die Nazi-Ideologie nur
Mittel zum Zweck war.
Wer dies nicht stets mitdenkt und mitformuliert, auch in der künstlerischen
Aussage, hat von Faschismus und Auschwitz nichts verstanden, da hilft kein
„christliches“ Lamento und kein (pseudo-)humanistisches Geschwafel.
Im internen Kreis verzichtet Penderecki auch gleich darauf: „Ich bin
kein Sozialist“, hatte er mich vor der Uraufführung der Lukaspassion
mitgeteilt, als ich ihn zu einer Diskussion über Musik und Politik
einladen wollte.
Die Solistin dieser Uraufführung wußte noch mehr: Penderecki
und sein Chefpropagandist Henryk Czyz wollten mit der Aufführung der
Passion „dem Herrn Jesus und der Jungfrau Maria dienen.“
Ein derartiges Heiligenbildchen-Denken will sich wohl mit ernsthafter
antifaschistischer Gesinnung schwerlich unter einen Hut bringen lassen.
Am 20 Juli 1969 hatte Penderecki erneut das inhumane Gebaren der Menschenkinder
– Intoleranz, Massenwahn, Hysterie und klerikalen Dogmatismus – aufs Korn
nehmen wollen: in der Erstlingsoper „Die Teufel von Loudon“, die an jenem
Tage in Hamburg aus der Taufe, oder besser; dem Weihwasser gehoben wurde.
Auch hier findet, ähnlich wie bei der Lukaspassion und dem „Dies Irae“,
die Auseinandersetzung nicht an und mit der materiellen Basis des ganzen
Problems statt, sondern verbleibt im ideologischen Überbau: In einem
französischen Ursulinerinnenkloster des 17. Jahrhunderts geht der
Teufel in Gestalt sexueller Wach- und Wahnträume der Nonnen um, wofür
ein strammer Kanonikus verantwortlich gemacht und nach schrecklicher Folter
auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.
Die Ideologie der Inquisition und des Hexenwahns sowie die gesellschaftlichen
Hintergründe, deren Herrschaftsverhältnisse zu ihrer Stabilisierung
eben diese sozialpsychologischen Mechanismen der Triebunterdrückung
bei Kollektiven und deren Kompensation durch Aggressionsentladung gegen
politisch unliebsame Minderheiten und Individuen benötigen, werden
nicht kritisiert, geschweige überhaupt evident gemacht; moralischer
Sieger bleibt der „unschuldige“ „heilige“ Kanonikus, übrigens eine
Verdrehung des historischen Geschehens, denn dieser war ein politischer
Ränkeschmied ersten Ranges... Das Aufzeigen christlichen Terrors wird
also durch den ideellen Sieg des „wahren Christentums“ wieder zurückgenommen
in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche.
Daß dieses monströse Verklemm- und Enthemm-Opus, was Szenerie,
dramaturgische Anlage und musikalische Faktur betrifft, traditionellste
Opernschablone ist, sei nur am Rande erwähnt; Penderecki weiß
dies sogar („Ich gehe nie in die Oper, ich finde Oper sehr langweilig“),
trotzdem schrieb er sie, der Grund dürfte ausschließlich finanzieller
Natur sein, und dafür kann man auch das 19. Jahrhundert aufwärmen,
wenns denn nicht anders geht. Um gleich bei diesem Punkt zu bleiben: Reaktionäre
Elemente finden sich nicht nur in Pendereckis klerikalideologischem Über-Ich,
sonden auch in der Musik selbst als Partiturkriterium; es sei ihm nicht
vergönnt, sich auf den reinen Geist der „absoluten Musik“ herauszureden.
Bestes Beispiel sind seine virtuosen Solostücke. Die Form des Solokonzertes,
entstanden und zur Blüte gekommen im 18. Jahrhundert, ist der künstlerische
Ausdruck des bürgerlich-demokratischen Emanzipationsstrebens zur Selbstbestimmung
des Individuums; so wie aber die demokratischen Ansprüche des Bürgertums
in liberalen Phrasen und der Anpassung an die hochkapitalistische Klassengesellschaft
endeten, nicht jedoch zur vollständigen Verwirklichung einer egalitären
Gesellschaft und der Aufhebung aller Klassen führten, so folgte aus
dem Solokonzert nicht die Emanzipation weiterer musikalischer Strukturelemente
(diese hat andere musikhistorische Ursachen), sondern die Formalisierung
dieses Typus in der nahezu unumschränkten Vorherrschaft des Solisten,
dessen Virtuosität in keinem Verhältnis zu strukturellen Notwendigkeiten
stand, über ein mehr oder minder unbedeutendes Begleitensemble. Diese
Art Musik (heute zum größten Teil vergessen) entsprach der Gesellschaft
des 19. Jahrhunderts und ihren philosophischen und künstlerischen
Projektionen der eigenen Unvollkommenheit auf einen „Übermenschen“,
wurde aber wie diese zunehmend anachronistisch.
Während bedeutende Komponisten des 19. Jahrhunderts und
später auch des 20. Jahrhunderts gegen die affirmative Kunst der Virtuosität
als Selbstzweck neue und schlüssige Lösungen des kompositorischen
Problems eines Werkes für einen Solisten und Orchester fanden, geht
Penderecki genau diesen Weg wieder zurück.
War seine „Sonate für Violoncello und Orchester“ vom Jahre
1964 noch in Ansätzen originell und witzig, so wird die Abspulung
virtuoser technischer Finessen in der „Sonata per Siegfried Palm“ (Violonello
solo) und im Capriccio für Violine und Orchester zum reinen Selbstzweck
und zur Masche; das seit über 100 Jahren anachronistische Virtuosenkonzert
wird wieder aufgelegt, angereichert halt mit Clustern, Schlageffekten und
statistischen Tontrauben, wie es der Zeitgeist will.
Der affirmative Musikbetrieb der spätbürgerlichen Gesellschaft
hat Penderecki in sich aufgesogen (so wie dieser jenen in sich), selbst
ein musikpolitisch so konservativer Vertreter der Erbauungskultur wie Herbert
von Karajan dirigiert neuerdings Penderecki. Das „Engagement“ dieses Komponisten
ist regressiv und reaktionär; noch nie hat er die Aktualität
des Faschismus im nahen Europa wie im fernen Vietnam, wo angeblich das
christliche Abendland verteidigt wurde und wird, konstatiert oder gar künstlerisch
formuliert; noch nie hat er wie etwa Luigi Nono oder der 1962 verstorbene
(und hierzulande viel zu wenig bekannte) Hanns Eisler sich darum bemüht,
die Grenzen einer elitären Clique von Musikkonsumenten zu überschreiten.
Ist Penerecki genau der richtige Mann für den reaktionären Flügel
des Klerus (auch in seiner polnischen Heimat) sowie für jene „kulturtragenden“
Kreise des Bürgertums, denen Engagement nur als Bestätigung der
eigenen Herrschaft erwünscht ist? Wo steht der „Linkskatholik“ Penderecki
wirklich?