Jan Topolski

Love Me Pender!

 "Mit Ovationen wurde die europäische Premiere des Klavierkonzerts "Auferstehung" von Krzysztof Penderecki aufgenommen, die in der Nationalphilharmonie am Samstag das 45. Internationale Festival Zeitgenössischer Musik 'Warschauer Herbst' beschloss"  – der Polnischen Presseagentur zufolge ging alles gut aus, und alle lebten lange und glücklich [Märchenschluß, im Deutschen "und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch", [Anm.d. Übers.]
Allerdings wissen einige, die bei jenem Konzert dabei waren oder eine Rundfunkübertragung gehört haben, dass keineswegs alles gut ist und keineswegs alle glücklich sind (wenn einige auch lange leben).

 Im Programm des Festivals Zeitgenössischer Musik befand sich nämlich ein Werk, das laut Werbung das neueste Meisterwerk unseres Best Living Composera ‘98 war, sich jedoch als ein in der Mikrowelle nach Jahrzehnten wiederaufgewärmtes Essen herausstellte. Dies Gericht setzt sich zusammen aus mit Sentimentalitäten, Pathos und Kitsch zusammengeklebten Nudeln, die sich mit ihren Wiederholungen ins Unendliche hinziehen, sowie aus einer Soße, in die der Koch hineinwarf, was ihm gerade in die Hände fiel - wobei er sich nicht im mindesten um die Beibehaltung des Geschmacks der Zutaten kümmerte, sondern um eine zähe Konsistenz mamalygi und um ein süßliches Aroma aus nicht näher präzisierten Gewürzen. Aber wie leicht verdaulich!

 Man hört diese Musik mit einem Ausdruck des Unglaubens, der sich von den Mundwinkeln nach und nach auf das ganze Gesicht ausbreitet. Hier ein Komponist, der früher – als einer der radikalsten – in der Avantgarde richtungweisend war (eine Synthese ist sein Meisterwerk Lukaspassion), später dann – als Neo-Romantiker – edle Melodien schrieb im Arrangieren von Mahler und Zwölftönigem, und der nun außerstande ist, auch nur ein einziges eigenes Thema zusammenzuschustern. Er bringt es nicht fertig, in einer eigenen Musiksprache zu schreiben, sondern schneidet aus und kompiliert, was ihm aus dem Großen Erbe in die Hände fällt bis heute gelten, käme Autorenrechte bis heute gelten, käme (würden Pendereckis Hof in Lusławice in diesem Augenblick unter den Hammer.)

Ja, er tut dies geschickt: in diesen mehrfach geflickten Hosen sieht man keine Nähte, die Erzählung geht mühelos voran. Aber wo unter diesen geglätteten und getünchten Wänden, unter den abgeschliffenen Kanten, unter den verwischten Konturen – wo ist ein Einfall, wo ist Musik? Bedeutet Postmoderne, in der wir angeblich leben, tatsächlich, dass es ausreicht, in einer Bibliothek über Partituren zu sitzen und auszuschneiden: die Streicher von Rachmaninow, die Thematik und Motorik von Prokoffjew und Bartok, die so oft schon gehörten Witze von Schostakowitsch, das Pathos (und den Titel!) von Mahler, die Figurationen und Passagen von Chopin, die Instrumentation von Ravel, dazu Harfen im Verein mit Glocken aus der Filmmusik - und dann dies alles zusammenzukleben? Und das wars dann? Schon fertig? Falls ja, ist diese Postmoderne beschämend, billig, ohne Schwung und (Selbst)Ironie.

 Wenn es doch wenigsten eine aufrichtige, engagierte Rekonstruktion eines kohärenten und überzeugenden alten Musikwerks wäre, wie im Violinkonzert von 1977. Aber nein! Hier haben wir die Cellobegleitung, direkt aus Rachmaninows III Konzert übernommen. Gleich müßte nun eine schöne romantische Melodie erklingen, und [was kommt?] ... nichts! Bloß Figurationen, Verzierungen, Triller, Tonleitern, und in der Großform lauter Episoden, Überleitungen, Intermezzi. Längst beiseite gelegte Handgriffe, Kunststückchen, Tricks, konventionelle Lösungen von Instrumentation und Harmonik, leere, abgenutzte Gesten! Eine dicke Schicht von Schminke, und darunter scheint die Leere hervor. Der König ist nackt!

 Und dies nicht erst seit heute. Schon im  Concerto Grosso für drei Celli und Orchester (2000) war zu hören, das Penderecki außer einer neoklassizistischen Interpretation von Mahler nicht viel Eigenes mehr zu sagen hat. Zum Glück bliebt dort noch Witz, abgenutzt zwar, wie die Mehrzahl der Witze bei Neoklassikern, aber immerhin Witz.  Jedoch im Klavierkonzert gibt es keinen Humor,  o nein!
Das hiesige fade Potpourri von Hits unterbricht in der Mitte ein naiver und bis an die Schmerzgrenze simpler Choral. Er erscheint mit jedem Mal in immer größerer Besetzung (Blech, Schlagzeug, große Trommel, Gongs...), immer größer, immer schwerer, immer bombastischer und immer unerträglicher.  Wie Penderecki selbst und wie all seine Kommentatoren unterstreichen, ist dies eine Reaktion des Komponisten auf die Geschehnisse des 11. September, ein Ausdruck der Hoffnung auf die Wiederkehr zur guten alten Ordnung der Welt (symbolisiert durch Dreiklangsharmonik und banale Instrumentierung).

Bei aller Achtung für den Komponisten möchte ich lieber nicht ernsthaft über die Bedeutung dieses Chorals nachdenken, denn ich wäre gezwungen zuzugeben, dass mit zunehmendem Alter der Grad an Infantilität und Prätenzionalität zunimmt anstatt abnimmt, während wiederum der Grad an Sublimierung, Reife und Subtilität  spada na leb na szyjê anstatt langsam und dauerhaft zu wachsen.

Allerdings, rein musikalisch betrachtet, empört diese Zusammenstellung noch mehr topornoscia, Primiticismus, Kitsch. Eben gerade Kitsch, wie es heißt: eine glückliche Kunst, scheint die angemessenste Bezeichnung für dies Werk zu sein - eines noch ernsteren (aufgeblasenen) und noch stärker überzuckerten Kandidaten für einen Hit (Meisterwerk) als das unsterbliche "Love Me Tender" von Elvis Presley.

 Unabweislich erscheint die Frage: warum? Schließlich ist Penderecki nicht der einzige Beteiligte dieser großen nostalgischen und sentimentalen Rückkehr zur Vergangenheit, wie sie die Musik seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts prägt. Während jedoch Pendereckis Reigegefährten sich von konsequenten Anschauungen und einer Ästhetik leiten lassen (besonders charakteristisch sind die Beispiele von Ustwolskaja oder Pärt oder auch Górecki, der sich nach dem Medienerfolg seiner III Sinfonie zurückzog), habe ich ernste Zweifel, ob die Rückkehr Pendereckis aus innerer Notwendigkeit hervorgeht.

Ob er wohl (um mit Lutoslawski zu sprechen) "eine solche Musik, wie er sie selbst gern hören würde", schreibt? Auf diese Frage kennt natürlich nur Krzysztof Penderecki selbst die Antwort, und es ist auch seine ganz private Sache, ob er sich selbst und seinem künstlerischen Gewissen treu ist.

 Von außen sieht man Eines: wie leicht diese Musik eingeht (und ausgeht), anstatt zum Denken anzuregen; wie sie unverändert große standing ovations hervorbringt anstatt einer Überraschung; jak wenig in ihr von unangenehmer, widerspenstiger Sprödheit, wie wenig Stachel, und wie viel stattdessen an netten, glatten und unverbindlichen Momenten. Wie viel an bekannten und beliebten Melodien, Idiomen, Stilen - interessanterweise aber keineswegs eine Synthese der Musik des 20. Jahrhunderts.

Und so findet sich hier denn auch nicht ein einziger radikaler Einfall wie Dodekaphonik, Punktualismus oder Sonoristik, und die kopierten Komponisten werden in einer Soft-Version präsentiert: Bartók ohne Polyrhythmik, Schostakowitsch ohne Groteske, Mahler ohne Collage und Metaphysik. Eine ideale Musik für den Ingenieur Mamon aus "Rejs", der da sagte: "Ich bin ein präziser Kopfund mag nur solche Lieder, die ich schon mal gehört habe."

Mit anderen Worten: ein Auftragskalender gefüllt bis ins Jahr 212, zwanzig Doktorate honoris causa, Auszeichnungen alle zwei Monate, Bankette, Gespräche über den Jahrtausendwechsel, eine Authorität und ein Ballon, der schwer zu durchstechen ist. Ob das eine aus dem anderen hervorgeht, oder ob das eine auf dem Altar des anderen geopfert wurde? Ich habe Angst vor einer Antwort.

Diese Worte schreibe ich nicht aus Neid, Mißgunst oder Hass, und ich möchte niemanden abstempeln.Ich schreibe als Liebhaber zeitgenössischer Musik, der sich außerhalb jeglichen Beziehungsgeflechts befindet, und  dem Tatsache aufrichtige Sorgen bereitet, dass einer der zweifellos hervorragendsten der lebenden Komponisten so schreibt, als wäre er in jedweder Hinsicht tot.
Best Dead Composer?

Jan Topolski